Die weißen Flecken der Alltagsgeschichte

In der Alltagsgeschichte soll es laut Wikipedia ↑ um die Frage gehen, wie Menschen im Alltag leb(t)en und ihr Leben und die Geschichte erleb(t)en. Subjektive Erfahrungen, Wahrnehmungen und Mentalitäten spiel(t)en dabei eine große Rolle.

Obwohl die Alltagsgeschichte als wissenschaftliche Disziplin in Deutschland aus den 1980er Jahren stammt und sich mit einer kritischen Perspektive gegen traditionelle Haltungen wandte, fanden sich in ihren Beschreibungen lange Jahre „weiße Flecken“, wozu ohne Zweifel auch die Beat- und Hippie-Kultur und die Geschichte der progressiven Diskotheken mitsamt ihrer Besucher zählte.

In den 1960er Jahren (und zuweilen noch lange danach) konnte man oft nur gegen den massiven Widerstand der Öffentlichkeit, von Eltern und Chefs ein Rock-Konzert oder eine Diskothek besuchen. Der Tatsache, dass sich die damaligen Jugendlichen davon nicht beeindrucken und beeinflussen liessen und sich eine eigene Jugendkultur entwickelte, verdanken wir eine der aufregendsten Phasen der neueren Geschichte.

Dennoch war dieser Teil der Jugendkultur lange Zeit so etwas wie ein Tabu, über das in der Óffentlichkeit nicht wirklich gesprochen wurde. Erst die Versuche des Schlossmuseums Jever, mit dem Ausstellungs- und Forschungsprojekt „Break on through to the other side. Tanzschuppen, Musikclubs und Diskotheken im Weser-Ems-Gebiet in den 1960er, 70er und 80er Jahren“ Licht in das Dunkel dieses Themas zu bringen, brachten – zumindest im norddeutschen Raum – entscheidende Änderungen mit sich. Ein großes Netzwerk an Unterstützern und Freunden ist entstanden, Radio-Sendungen und zahllose Revival-Partys pflegen das musikalische Erbe dieser Zeit, kurzum, es ist eine ganze Erinnerungskultur mit vorher undenkbaren Themen entstanden. Der legendäre DJ und langjährige Diskothekenbetreiber Rio de Luca prägte daher den mittlerweile auch schon legendären Satz „Ihr habt uns allen eine Geschichte gegeben“, hinter dessen Aussage viel mehr steckt als eine bloße Floskel.

Natürlich erinnert man sich heute auch andernorts an diese vergangen geglaubten und doch so erstaunlich lebendigen Zeiten. Durch diese Tendenzen verschwinden langsam aber sicher auch die letzten weißen Flecken aus der bzw. unserer Alltagsgeschichte. Aus dem Allgäu kommt z.B. seit einiger Zeit ein Blog namens „Ein Groschen für die Musikbox. The Fabulous Sixties“ ↑, dessen Beiträge sich ganz wunderbar lesen und für alle anderen Regionen zur Lektüre und gerne auch Nachahmung empfohlen werden. Dem „Sound der 60er“ nachspüren möchten die Autorinnen und Autoren, ihr Motto lautet „‚Einen Groschen für die Musikbox‘ ist ein Blog über das Erwachsenwerden in den 60er Jahren. Kleine Geschichten über den ganz normalen Wahnsinn damals. Genau das und mehr aber auch nicht“.

Einen Groschen für die Musikbox. The Fabulous SixtiesEinen Groschen für die Musikbox. The Fabulous Sixties

Mitherausgeber Peter M. Roese hat bereits vor einiger Zeit den Roman „Allgäu Sixties“ ↑ veröffentlicht, einen vielgelobten Heimatroman der etwas anderen Art. Auf der Website des Vereins „German Rock e.V.“ ist ein ausführliches Interview mit dem Autor über seinen Roman und seine Motivation als Autor zu hören.

Auch die andere Herausgeberin des Blogs, Roswitha Geisler ↑, beschäftigt sich seit längerem mit der „turbulenten Zeit“ der 1960er Jahre. Mit dem Buch „Sauerland Sixties. Die 60er im Sauerland. Woodstock in der Provinz“ bereitet sie derzeit einen weiteren regionalen Roman aus den „Sixties“ vor.

„Ein Groschen für die Musikbox. The Fabulous Sixties“ enthält in bunter Mischung alltagsgeschichtliche Beiträge aus einer bewegten Zeit, nur eben ohne weiße Flecken. So finden sich dort Texte über den Minirock, das Kino auf dem Land oder die Wasserversorgung auf dem Dorfe neben Artikeln über lokale und regionale Beat-Bands und -Konzerte oder einem Reisebericht über einen wilden „Trip durch den Orient“ 1968. Das sind allesamt keine wissenschaftlichen „Grabungsberichte“, sondern Erzählungen von Zeitzeugen mit hoher emotionaler Dichte, deren Mischung bzw. Vermischung das eigentlich Neue und Schöne dieses Blogs über die 1960er Jahre darstellt. Bitte mehr davon!

Wilfried

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