„Popmusik und Pillenknick“

Zur gleichnamigen Ausstellung im Museumsdorf Cloppenburg ist im Rasch Verlag (Bramsche) der Katalog „Umbruchzeit – Die 1960er und 1970er Jahre auf dem Land“ – „Popmusik und Pillenknick“ erschienen.

Ein Ausflug in die Sechziger Jahre …

Mach mal Pause. An heißen Sommersonntagen in den Sechziger Jahren fuhren meine Eltern mit ihren vier Kindern gerne zur Thülsfelder Talsperre in der Nähe von Cloppenburg zum Baden. Unterwegs, in Hemmelte, absolvierten wir den Kirchgang – eine „Strafe“ für Kinder, die sich kein strenger Pädagoge angesichts der sehnsüchtig erwarteten Badefreuden hätte schlimmer ausdenken können.

Doch das Leben ging weiter. Vor Hitze klebte uns Kindern der Autositz aus Kunstleder am Steiß. Angekommen in Thülsfelde (Nord) ging es ausgerüstet mit Luftmatratzen, gebratenen Koteletts, Badesachen und vor allem mit einem Kofferradio von Schaub Lorenz vorbei am lecker duftenden Schnellimbiss an einen weniger stark besuchten Uferabschnitt. Hoffnungsvoll suchten wir Kinder auf Kurzwelle nach Radio Luxemburg, um zu unserem Badekurzurlaub das passende akustische Umfeld zu erzeugen.

„Bitte nicht zu laut, Kinder!“, mahnte die Mutter. Radio Luxemburg sendete in den Sechzigern deutsche Schlager, englische Beatmusik und amerikanische Rock-’n’-Roll-Klassiker. Allen voran sang Elvis Presley, in friedlicher Koexistenz, doch hinter den Kulissen kämpfte die britische und amerikanische Schallplattenindustrie um Marktanteile in ihren ehemaligen Besatzungszonen.

„Let’s have a Party“. Die englische Beatmusik und der amerikanische Rock’n‘Roll kamen für uns Kinder wesentlich energiegeladener, lebendiger herüber als die Schlager von Billy Mo, Gerhard Wendland und Co., die deutsche Gemütlichkeit auszustrahlen beabsichtigten. Wir waren mittendrin in diesem musikalischen Kampf der Kulturen – freilich, ohne es zu wissen.

Heute ist mir eines gewiss: Die deutsche Musikindustrie versuchte, den eigenen Liedermarkt vor ausländischen Produktionen zu schützen. Sie konnte sich dabei der Zustimmung der älteren Generation sicher sein. Denn diese war größtenteils in einer Zeit aufgewachsen, in der Swing- und Jazzmusik verboten waren. Allerdings verstand sich die deutsche Schallplattenindustrie sehr wohl darauf, amerikanische und britische Hits von deutschen Interpreten mit deutschen Texten auf den Markt zu bringen. Zunächst sehr erfolgreich – am Ende verlor sie den Kampf um entscheidende Marktanteile – vor allem auch, was das Airplay anbelangte.

The Beat begins. Mit der Anschaffung eines Fernsehgerätes in unserer Familie kam der Beat Club von Radio Bremen ins Haus. Er sorgte bei uns Jugendlichen für pure Faszination, denn auf dem Land war sonst nur wenig los. Als Heranwachsende konnten wir aus alten Bravo-, Twen-, Pardon- oder Konkretzeitschriften, die meine älteren Geschwister aufbewahrt hatten, erfahren, was an kulturellen Gegenbewegungen in San Francisco, New York, London und auch Berlin entstanden war oder sich bereits intensiv verbreitet hatte.

Und in die Siebziger …

Und dann entdeckte ich für einige Jahre die Diskothek Scala in Lastrup (Nähe Cloppenburg) von Wolfgang Schönenberg. Einige Jahre später ging es zum Studium nach Bremen in die neu gebaute Universität, konkret ins GW2. Diese Abkürzung stand für Geisteswissenschaften – ein Riesengebäude mit einer Betonarchitektur, die ich als abstoßend empfand. Sie ließ sich für mich schlecht mit dem Begriff Geisteswissenschaften verbinden.

Nun zum Katalog: Wer auf ähnliche Erinnerungen wie ich zurückblicken kann, wer gerne vertiefend wissen möchte, weshalb die Sechziger und Siebziger Jahre so umwälzend anders waren, als die Jahre zuvor und danach – auch und insbesondere in den ländlichen Teilen Deutschlands – wird von diesem Band begeistert sein. Auf 248 Seiten vermittelt der reich bebilderte, gut gestaltete und leicht zu lesende Katalog u.a. Wissen zur Verbreitung der Rock’n’Roll-, Beat- und Popmusik. Er veranschaulicht u.a., wie sich das Einführen der „Pille“ in den Sechziger Jahren auswirkte, vor welchem Hintergrund und mit welchen Konzepten die Hochschulreform und die Universitäten Oldenburg und Bremen entstanden, wie sich die junge Kunst, die Mode, touristische Trends sowie neue, moderne jugendorientierte Zeitschriften entwickelten (Stichwort: Bravo, Twen, pardon, konkret und auch die St. Pauli Nachrichten).

Das politische Lied entsteht neu

Unterhaltsam und sehr originell ist das Katalogkapital über die ersten Open-Air-(Folk)-Festivals Deutschlands auf Burg Waldeck. Mir unbekannt war eine kleine „Revolution“ auf dem Land: die rote Knastwoche in Ebrach. In dem kleinen bayrischen Flecken verbüßte ein Jugendlicher wegen mehrfachen Schwarzfahrens, unerlaubten Tragens einer Polizeiuniform und Demonstrationsdelikten eine mehrmonatige Jugendstrafe – derweil draußen Jugendliche aus ganz Deutschland gegen diese drakonische Strafe demonstrierten.

Zu den beiden Texten von Dr. Wolfgang Rumpf (u. a. Musikchef des Nordwestradios und Autor zahlreicher Bücher über Beat- und Popmusik) würde ich mich gerne einmal mit dem Autor persönlich konstruktiv unterhalten: Zum einen vermisse ich Hinweise auf die alternativen Diskotheken Dorfkrug Varrelbusch und die regional in den Siebzigern sehr angesagte Diskothek Scala in Lastrup von Wolfgang Schönenberg. Ergänzend hätte ich auch einige wichtige Konzerte in der Cloppenburger Münsterlandhalle (z.B. Manfred Mann, Curved Air) in den Siebzigern gesehen. Sicher: entsprechendes Bildmaterial und Informationen sind sehr schwer zugänglich. Man kann nur hoffen, dass sich noch Zeitzeugen finden, die in der begleitenden Cloppenburger Ausstellung diese Informationen hinzufügen.

Nachdenklich macht mich Dr. Wolfgang Rumpf in seinem ersten Beitrag „Rock’n’Roll-Kino – Star Club – Beat Club“. Dort erwähnt er eingangs „politischen Protest (gegen Atomversuche, gegen die Wiederbewaffnung der Bundeswehr, mündend in die Ostermarschbewegung usw.“ in einem Satz mit „jugendlichem Aufbegehren in Verbindung mit Rock’n’Roll-Musik“ (Seite 9 im Katalog). Hatten die Bewegungen gegen Atomversuche und die Rock’n’Roll-Bewegung, die in den Fünfzigern eher noch in den Kinderschuhen steckte, personell gleiche Schnittmengen? War dem wirklich so? Ging es den Rock‘n‘Rollern nicht vielmehr darum, amerikanischen Lebensstil zu pflegen oder sich wie die amerikanischen Rock‘n‘Roll-Stars bzw. Kinostars zu kleiden, um dem jeweils anderen Geschlecht zu imponieren? Wie politisch waren sie wirklich?

Die deutschen Anhänger des Rock’n‘Rolls mit politischen Ambitionen dürften sich in den Fünfziger Jahren nach meiner Meinung auf dem Land vermutlich nur im Promillebereich bewegt haben. (Wenn dem so nicht der Fall war, lerne ich gern dazu.) Vielleicht war es aber auch schon so, dass sich Rock’n‘Roll-Musik in den Fünfzigern stark auf dem Lande verbreitet hatte, und zwar mittels Musikboxen und Raupenbahnen. Über diese beiden „Medien“ als Distributionskanal für zeitgenössische Musik im Weser-Ems-Gebiet lohnt es sich meiner Meinung nach, weiter zu forschen. Vielleicht finden sich auch hier noch Zeitzeugen, die berichten können, bevor die Quellen versiegen. Deutsche und amerikanische Marktforscher erfassten jedenfalls schon seit den Fünfziger Jahren akribisch, welche Tasten auf den Musikboxen von den Deutschen und Amerikanern am meisten gedrückt wurden. Damit wollten sie stetig die Beliebtheit ihres Automatenprogramms bei den Jugendlichen ermitteln und den Gewinn maximieren. Die Ergebnisse fasste man in so genannten „Cash-Box-Charts“ zusammen. Diese Charts ausfindig zu machen, ist allerdings schwierig. Vielleicht hat ein Leser noch die ersten Jahrgänge der Branchenzeitschrift „Der Automatenmarkt“ im Schrank? Das professionelle Musik-Marketing war jedenfalls in den Fünfzigern schon sehr weit entwickelt, weiter als so mancher heute denkt.

Aus den vielen verschiedenen Beiträgen in diesem Katalog kann man seinen eigenen spannenden roten Faden spinnen, viele bisher unbekannte Zusammenhänge werden deutlich. Insgesamt bekommt man mit diesem Katalog eine Menge Wissen über eine außergewöhnliche Zeitperiode und über gesellschaftliche Umwandlungsprozesse, die die Autoren unterhaltsam und lesefreundlich darbieten. Und zudem kann man noch einiges Neues über Su Kramer („Hair“), Renate Kern, Ulrike Meinhof und die Terrorismuswahrnehmung an der bundesrepublikanischen Peripherie erfahren – und das zu einem unschlagbar günstigen Preis.

„Umbruchzeit – Die 1960er und 1970er Jahre auf dem Land“ – „Popmusik und Pillenknick“. 248 Seiten; 28,5 cm lang x 24,5 cm breit x 1,5 cm hoch; 1,212 KG; zahlreiche Abbildungen in schwarz/weiß und farbig, ISBN 978-3-89946-168-8, 13.00 €

Die Ausstellung in Cloppenburg ist Teil der Ausstellung „Umbruchzeit“ – ein Gemeinschaftsprojekt folgender Freilichtmuseen:
Fränkisches Freilandmuseum Bad Winsheim
Fränkisches Freilandmuseum Fladungen
Niedersächsisches Freilichtmusuem Museumsdorf Cloppenburg.

Zu allen Ausstellungen sind Kataloge erschienen, die einzeln oder gemeinsam im Schuber erhältlich sind.
Band 1: Fladungen, Ladenpreis 8,00 EUR
Band 2: Bad Windsheim, Ladenpreis 15,00 EUR
Band 3: Cloppenburg, Ladenpreis 13,00 EUR (ISBN 978-3-89946-168-8)
Bd. 1-3 im Schuber: Ladenpreis 30,00 EUR (ISBN 978-3-89946-169-5).

Gisbert

3 Gedanken zu „„Popmusik und Pillenknick““

  1. Da bin ich auch häufig gewesen. Volker Kriegel hat dort mal gespielt. An Platten, die dort viel liefen, habe ich noch die SEAWIND und QUANTUM JUMP in Erinnerung. Beide habe ich dort zum ersten Mal gehört und dann auch direkt gekauft. Muss etwa 1977 gewesen sein, denn das Fiz Oblon in Bippen hatte damals noch nicht auf.

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