„Retromania“

Wann immer in der letzten Zeit über den aktuellen Stand der Rock- und Popkultur diskutiert wurde, fiel stets der Name des britischen Musikjournalisten Simon Reynolds und seines Buches „Retromania: Pop Culture’s Addiction to Its Own Past“.

Reynolds konstatiert in seinem Buch, dass in der Musikproduktion unserer Zeit eine alles erfassende Nostalgie vorherrsche. Diese Rückbesinnung auf Vergangenes sei so stark, dass es in den letzten 10, 15 Jahren keine einzige trendsetzende musikalische Innovation mehr gegeben habe. Als Beweis dient ihm dabei z.B. die Zitatkultur der Mash-Up-Produktionen, in denen Schnipsel bereits vorhandener Songs zu einem „neuen“ Song zusammengesetzt werden. Aber auch die überall grassierenden Revivals und Wiedervereinigungen von Bands sowie die zunehmende Anzahl an Rockmuseen seien Anzeichen dafür, dass sich die Rockmusik nur noch aus der Vergangenheit speise.

Auch in Deutschland sprangen viele auf diesen Zug auf (Nadine Lange, Christian Schröder: Die Gegenkultur endete mit dem Feuerzeug-Schwenken. ZEIT-Online, 02.11.2011). Die meisten waren sich einig, dass in der aktuellen Musik nichts los sei und klagten, dass Rockmusik heute wohl kaum noch eine Bedeutung habe und dass offensichtlich alle, die eben diesen Zustand beklagten, älteren Semesters seien und die Rolle der Musik noch ganz anders erlebt hätten.

Doch längst nicht alle folgen diesen Analysen. Vor allem viele jüngere Leute fühlten sich von den darin geäußerten Ansichten diskreditiert und angegriffen. Sie sind der Meinung, dass die Verfechter der angeblich grassierenden „Retromania“ einfach keine Ahnung vom aktuellen Musikgeschehen hätten und lediglich die Auflösung der traditionellen Strukturen im Musikmarkt fürchteten und angesichts der großen Veränderungen z.B. im Bereich der Tonträger oder dem Bedeutungsverlust der klassischen Musikmagazine von großer Unsicherheit ergriffen seien.

Der leider unlängst verstorbene Autor und Verleger Martin Büsser hat dafür wie stets kluge Worte gefunden. „All das hat nichts mit Niedergang zu tun, schon gar nichts mit dem Ende von guter Musik – davon gibt es im Gegenteil mehr denn je! –, son­dern es bedeutet erst einmal nur das Ende eines traditionellen Geschichtsverlaufs im Pop, der bislang mit Historisierung und Kanonbildung einherging. Beides hing unmittelbar mit der Ver­öffentlichung und Beurteilung von Tonträgern zusammen. Derzeit erleben wir dagegen den Über­gang von Musik als historischem Spezialwissen hin zu einem ahistorischen, allen zugänglichen Nebeneinander, das alte Machtkäm­pfe und Hierarchien obsolet werden lässt“ (Nicht vom selben Planeten. Martin Büsser: Die Veränderungen in der Musikindustrie. Jungle-World Nr. 16, 16.04.2009).

Meines Erachtens leben wir keineswegs in einer „innovationslosen“ Zeit. Die ständige Diskussion um „Alt“ oder „Neu“ in der Musik geht ursächlich wohl eher auf die Musikindustrie zurück, die stets nach neuen Kategorien und Beschriftungen für ihre Verkaufsregale sucht. Allein in der so genannten „Indie-Szene“ dürften sich weltweit einige Millionen (!) Künstler tummeln, die allesamt an „ihrer“ Musik basteln und sich wenig um die Kriterien der Musikindustrie wie die der Musikkritiker scheren.

Als ich persönlich anfing, mich für Musik und insbesondere Rockmusik zu interessieren, kam mir das Angebot immer wie eine große Wiese vor, auf der man sich unendlich lange aufhalten und umherstreifen und seine Sinne an den zahllosen Farben, Formen und Klängen schulen konnte. Ein Vorne und Hinten, ein Alt und Neu gab und gibt es dabei nicht. Ja, eine unendliche Wiese, die immer weiter wächst und auf der man immer wieder besondere, interessante Menschen treffen kann …

“Der ganze Trick der Rockmusik besteht darin, dass sie spiegelt was ohnehin läuft” erkannte Pete Townsend (The Who) schon in den 1960er Jahren. Und das ist heute nicht anders, der Antrieb, Rockmusik zu machen und auf die Zeit, in der man lebt, zu reagieren, scheint ungebrochen. Mit Innovation hat das zunächst einmal gar nichts zu tun. „Keine andere Musik hat so viel Energie wie Rockmusik“, sagt Suleinman, Sänger und Gitarrist von „Afghanistans erster Indierockband“ Kabul Dreams, die zur Zeit im deutschen Feuilleton sehr präsent ist (Marian Brehmer: Kabul lernt rocken. ZEIT-Online, 24.04.2012).

„‚So lange wir hier Musik machen können, werden wir Afghanistan nicht verlassen‘, sagt Siddique. Die ständige Beschäftigung mit Politik ließe den Verstand nicht zur Ruhe kommen. ‚Musik war schon immer eine Medizin, die jeden positiv stimmt.‘ Afghanistan brauche nicht nur den Wiederaufbau von Infrastruktur, sondern auch einen psychologischen Wiederaufbau. Die Band möchte ihren Teil dazu beitragen. Das Leuchten in den Augen der Konzertbesucher sei schon Beweis genug“ (Marian Brehmer: Kabul lernt rocken. ZEIT-Online, 24.04.2012).

Das Rockmusik auch jenseits der (nervenden) Suche nach dem „nächsten großen Ding“ äußerst lebendig ist, beweisen diverse Videos von Kabul Dreams auf Youtube, darunter das schon halbwegs professionell produzierte „Sadae man“ sowie der offizielle Trailer vom spontanen Straßenkonzert im Kabuler Viertel Shar-e-Now am 27.07.2011, das die Band rausführen sollte aus den bisherigen abgeschirmten Veranstaltungsorten und die Kabuler mit Musik konfrontieren sollte, die sie so vorher noch nicht gehört hatten. Wahnsinnsbilder!

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Wilfried

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